Der farblose Regenbogen

Ich erzähle euch von einem Traum. Von einem endlosen Traum, der nicht zu enden vermochte.

Alles beginnt mit unend­li­cher Stille. Nur das leise fließende Wasser des kleinen Baches füllt die Atmo­sphäre. Das erste, bunte Laub wird mit dem leichten Wind eins und die lachende Sonne prahlt am Himmel, kurz bevor sie unter­gehen wird.

Der kleine, zierliche Junge mit seinen braunen wusche­ligen Haaren und diesen wunder­schönen grünen Augen hüpft auf der noch immer feuchten Wiese umher und greift dabei verspielt nach dem Laub. Dabei baumelt der rote Knopf seiner beigen Latzhose fröhlich an einem losen Faden umher.

Der Regen vom Morgen riecht nach herr­li­cher Frische und der kleine Junge fühlt sich einfach nur geborgen in dieser Welt. Diese Welt bestehend aus Frieden, aus dem Gefühl der Fülle und erfüllt von Liebe.

Während der kleine Junge von seinem kleinen Spektakel berauscht ist, erscheint plötzlich ein Regen­bogen am Himmel. In kräftigen Farben leuchtet er und der kleine Junge stockt vor Staunen. Mit großen Augen schaut er empor. Verzwei­felt versucht er, in seinen über­großen Gummi­stie­feln, nach dem Regen­bogen zu greifen. Er springt und ringt mit sich, doch tut er sich schwer in seinen gelben Schuhen, die viel zu groß für ihn sind.

Da bekommt er eine Idee. Rasch zieht er die Schuhe aus und klettert auf einen riesigen Kirsch­baum in der Nähe, um dem Regen­bogen so nah wie möglich zu sein. Als er einen breiten Ast erreicht, macht er es sich bequem und sitzt gelassen darauf. In der einen Hand hält er seinen kleinen, braunen Teddy und schaut auf das herz­zer­rei­ßende Bild, das sich ihm bietet.

Der Junge ist so hinge­rissen von der Schönheit vor ihm, dass er dort ewig verweilen würde, wenn er nur könnte. Die inten­siven Sonnen­strahlen erwärmen sein Herz. Der Geruch von Freiheit und Frieden füllt seine Lungen, und der bunte Regen­bogen lässt ihn lächeln.

Doch dann, nach einer Weile, weht der Wind, nach dem der Junge wohltuend greift, und trägt ihn weiter, so lange bis seine Zeit erneut gekommen ist.

Doch dieses Mal ist der Regen­bogen nur zur Hälfte farbig. Die Sonne scheint nicht mehr so strahlend, wie er es kennt, und die ehemalig saftig grüne Wiese ist zum größten Teil vertrocknet. Die Menschen, die vorher noch glücklich und zufrieden wirkten, scheinen nun traurig und leblos. Beinahe geis­tes­ab­we­send.

Der kleine Junge fühlt sich über­for­dert und sein kleiner brauner Teddy ist verschwunden. Der Teddy, der ihm Kraft und Halt schenkte. Verzwei­felt läuft der kleine Junge in seinen über­großen Gummi­stie­feln über die Land­schaft.

Plötzlich erblickt er ein paar Jugend­liche, die seinen Teddy in der Hand halten. Eilig schlen­dert er zu ihnen und bittet um seinen Teddy. Doch augen­blick­lich lachen sie ihn aus und zerreißen den Fuß des Teddys.

Der kleine Junge beginnt zu weinen, und in dem Moment schubsen die Jugend­li­chen ihn auch noch. Er versucht sich zu wehren und ruft nach Hilfe. Doch es ist vergeb­lich. So viele Menschen laufen an ihnen vorbei, schauen zu und unter­nehmen nichts.

Mit schmer­zenden Armen und nur noch einem Gummi­stiefel lassen sie den Jungen zurück. Verzwei­felt läuft er zum Kirsch­baum und klettert ihn schmerz­voll hinauf. Der Wind weht erneut und trägt den Jungen wieder mit sich.

Doch dieses Mal ist der Regen­bogen voll­kommen farblos, das Sonnen­licht erloschen, der Himmel dunkel­grau und die Atmo­sphäre kalt und neblig. Die Luft riecht stechend und füllt die Lungen mit giftigen Abgasen.

Es ist laut. Überall das Kreischen von Menschen nach Hilfe, vor Leid. Überall der laute Knall von Bomben. Dazu das Orange von Feuer oder das Grau von Qualm und Rauch. Die ganze Atmo­sphäre füllt sich dunkel, mit schwarzen und roten Farben.

Der kleine Junge fühlt sich verloren. Alles ist gefüllt von Trauer, Hass und Tod. Er weiß nicht wohin mit sich. Er ruft nach seinen Eltern, nach seinen Freunden, nach einem Ausweg. Doch es ist zwecklos.

Zur Hälfte barfuß, rennt er und beob­achtet die Land­schaft. Die einstige Land­schaft, die er kannte und zu lieben gelernt hatte, weicht nun einem Schlacht­feld. Der Nebel aus Qualm versperrt ihm beinahe die ganze Sicht.

Er ringt dennoch mit sich, wirbelt umher und versucht den Stimmen, den Rufen des Leids zu folgen. Vor lauter Über­for­de­rung verliert der kleine Junge das Gleich­ge­wicht und fällt auf den matschigen Boden.

Da kommen ihm die Tränen. Sein Teddy ist spurlos verschwunden. Er weint unauf­hör­lich und irgend­wann muss er husten. Gift und Leid lassen den Jungen bald kaum noch Luft bekommen.

Verzwei­felt sucht er nach dem Kirsch­baum, um hinauf zu klettern und nach dem Wind zu greifen. Doch dieses Mal ist kein Baum in Sicht. Dieses Mal ist kein Wind in Sicht.

Dem kleinen Jungen wird bewusst, dass dies die Realität ist. Es gibt kein Entkommen mehr. Der kleine, zierliche Junge kann diesem Geschehen nicht länger stand­halten und schließt seine Augen vor Kummer und Schmerzen und dieses Mal schläft er für immer.

Er scheitert an der Realität, die ihn einholt. An der Realität, die wir selbst zu verant­worten haben. Eine Realität, die keine Liebe und keinen Frieden kennt.

Das hass­erfüllte Handeln der macht­gie­rigen Menschen einer­seits und das Nicht-Handeln derer, die gleich­gültig waren und wegschauen ande­rer­seits.

Und wozu das Ganze? Warum müssen wir in solch einem Zustand enden. Mit verschlos­senen Augen vor den Problemen dieser Welt.

Gleich­gül­tig­keit beginnt bereits bei kleinen Taten. Denn wer bei kleinen Taten bereits wegschaut, der wird es auch bei großen tun.

Wozu der ganze Hass, der Schmerz, das Leid, wenn es doch eigent­lich so einfach ist zu lieben? Wozu Krieg, wenn man den Frieden haben kann? Was hindert uns daran, die Waffen fallen zu lassen und endlich zu leben?

Unser Ego oder das Ego derer, die ganz oben sitzen? Oder beides? Was hindert uns daran für Toleranz einzu­stehen? Warum ist der Mensch selbst des Menschen größter Feind und nicht des Menschen bester Freund?

Was hindert uns daran für unsere Rechte zu kämpfen? Was hindert uns daran, zu handeln und nicht tatenlos zuzu­schauen?

Nichts, nicht wahr? Denn das Böse kann nur blühen, wenn Menschen keinen Wider­stand leisten und nicht handeln. Wer nicht handelt, der schaut weg und gibt dem Bösen die Oberhand.

Das Leben ist nicht beständig, aber sollten wir die Zeit nicht lieber mit Liebe und Freude füllen? Wollen wir nicht gemeinsam dafür sorgen, dass der Regen­bogen erneut bunt wird und den kleinen Jungen wieder glücklich macht?

von
Ela Cigir­dasman