Weit verbreitet ist die Ansicht, dass das deutsche Schulsystem und deutsche Schulen insgesamt irgendwie schlecht sind. Es mangelt an Geld, die Digitalisierung bleibt aus, der Leistungsdruck ist viel zu hoch, in der Pisa Studie wird Deutschland immer schlechter und das gesamte Schulsystem ist zwei Jahrhunderte alt. Es scheint klar: Irgendwas muss sich verändern. Aber was?
Zuerst einmal das Einfachste. Wir brauchen mehr Geld. Das würde dem deutschen Staat langfristig sogar Kosten sparen, da ungebildete Menschen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung den Staat jährlich 1,5 Milliarden Euro kosten. Das Geld brauchen wir einerseits für die Sanierung verfallender Schulgebäude, für neue Anschaffungen im Bereich der Digitalisierung und für andere Besorgungen. Aber Geld ist auch eine Möglichkeit, um den Lehrerberuf attraktiver zu machen und mehr Lehrende anzustellen. Dies ist zum einen wichtig wegen der überfüllten Klassen. 29 Schüler sind einfach zu viel. Zum anderen schätzen 92 Prozent aller Lehrenden ihre Arbeitsbelastung laut Statista als hoch oder sehr hoch ein, der Rest als angemessen. Neben vielen Burnouts leiden auch 30 Prozent des Lehrpersonals an psychischen Problemen. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Schulen wäre das Mindeste, nachdem das Militär dieselbe Summe bekommen hat.
Aber was kann man gegen den Leistungsdruck machen? Der Leistungsdruck wird offensichtlich vor allem durch Noten hervorgerufen. Für mündliche Noten muss man sich sogar den gesamten Schultag beweisen, was einen dauerhaften Stress hervorrufen kann, während bei den schriftlichen Noten der Stress gebündelt kommt. Ich denke, die meisten hatten schon weinende Mitschüler in einer Klassenarbeit, das sollte in einer normalen Welt niemals normal sein.
Und das hängt nicht nur mit der Angst vor dem Sitzenbleiben zusammen. Allein der Fakt, dass man bewertet wird, ist für viele ein Problem. Laut der Hemera Klinik haben rund 15 Prozent aller Schüler:innen bis zu ihrem 18. Lebensjahr einen Burnout dank des zu hohen Leistungsdrucks. Das sollte so nicht sein.
Das finnische Schulsystem gilt als das beste Schulsystem der Welt und zeigt, dass es auch anders geht. Dort werden die Schüler bis zu der vierten Klasse nicht benotet, und bis zur neunten Klasse ist die Lehrperson nicht verpflichtet, Noten zu vergeben. Und selbst wenn Noten vergeben werden, sind es nie einfach nur Zahlen, sondern verbunden mit einem individuellen Kommentar, ähnlich zum Zeugnis der ersten Klasse.
Alternativ zum Sitzenbleiben könnte man auch ein individuelleres Kurssystem ähnlich zu dem der Oberstufe einführen, wobei man auch die Anzahl der Fächer reduzieren könnte. Wenn man in einem Kurs nicht mitkommt, wiederholt man diesen und nicht alle Kurse, was ein ganzes Jahr beanspruchen würde. Auch sticht Finnland damit heraus, dass „Phänomene“ wie der Klimawandel fächerübergreifend behandelt werden, damit man diesen voll versteht. Auch hat Finnland es geschafft, digitaler zu werden und Raum zum Spielen zu lassen. Kurzer Not-So-Fun-Fact: Es gab eine Studie der NASA, in der geschaut wurde, wie viele Genies es gibt. Das Kriterium war die Fähigkeit, kreativ Probleme lösen zu können. Im Kindergartenalter gab es 98 Prozent Genies, im Erwachsenenalter nur noch 2 Prozent. Unser Verständnis von Schule und unserem Schulsystem zerstören unsere Kreativität und damit die „Innovationsfähigkeit“, von der es heißt, dass man sie nur mit Leistungsdruck erhalten kann.
Unser dreigliedriges Schulsystem wurde vor 200 Jahren eingeführt und hat sich seitdem kaum verändert. Es wird vor allem seine Ungerechtigkeit kritisiert, da Kinder aus sozial benachteiligten Schichten sehr viel seltener auf das Gymnasium kommen können als Kinder von Eltern, die studiert haben. Noch dazu haben manche Kinder entscheidende Entwicklungssprünge früher im Gehirn als andere, was eine sinnvolle Einteilung unmöglich macht.
Aber wie kann man dieses kaputte System reformieren? Dazu braucht es zweierlei. Zum einen braucht es Politiker, die etwas ändern wollen. Dann müssen diese Politiker:innen das noch ändern dürfen. In Deutschland ist dank des Föderalismus jedes Bundesland selber für seine Schulen verantwortlich. Das bedeutet, dass die Schulen nicht einheitlich sind und sich nur sehr schwer etwas ändern kann. Das muss abgeschafft werden. Die Bundesregierung muss endlich verantwortlich für die Schulen sein.
Wie können wir jetzt noch die Politikerinnen überzeugen? Es gibt drei Formen von politischer Macht. Das Offensichtlichste ist die Macht durch das Wahlrecht. Das heißt, du wählst Parteien, die dann durch deine Wahlstimme mehr Macht bekommen und deswegen versuchen, deine Interessen zu vertreten. Schüler unter 18 Jahren dürfen nicht wählen.
Dann gibt es noch Lobbys. Dort geben Konzerne wie VW oder RWE Politikern Geld, damit sie Gesetze für sie aufhalten oder einbringen. Auch diese Macht haben Schüler nicht.
Und dann gibt es noch Streiks. Wenn Menschen streiken, arbeiten sie nicht mehr. Was weder der Politik noch den Arbeitgebern gefällt, weshalb sie früher oder später auf die Streikenden eingehen. Das dürfen Schüler nicht. Nur wenn sie um Erlaubnis fragen, wie bei Fridays for Future. Und das verfehlt eindeutig das Ziel. Es geht ja nicht darum das zu tun, was die Regierung will. Wenn Schüler streiken, gilt das als Missachtung der Schulpflicht und kann mit 180 Euro oder bis zu sechs Monaten Haft bestraft werden. Nicht einmal verbeamtete Lehrer (und das sind die meisten) dürfen für bessere Bedingungen oder eine Schulreform streiken. Also warten wir einfach weiter ab, bis sich irgendein Politiker nach 200 Jahren mit diesem Schulsystem doch noch erbarmt.
Oder aber
Wir sagen uns, dass wir alle gemeinsam eine Woche früher in die Sommerferien gehen, um zu streiken. Wenn viele Schülerinnen und Schüler das machen würden, kann der Staat die Strafen nicht durchsetzen, weil dann zu viel Aufmerksamkeit auf diesem Thema liegen würde. Ehrlich gesagt läuft dort sowieso kein Unterricht, und diese Probleme erhalten endlich eine große mediale Aufmerksamkeit. Denn mal ehrlich, sobald man aus der Schule draußen ist, interessiert man sich nicht mehr für die Probleme in der Schule.
Wir können uns nur selber helfen! Niemand anderes wird 100 Milliarden Euro für die Jugend, bessere Bedingungen für Lehrer und eine Schulreform fordern. Wir waren in der Vergangenheit berechtigterweise so sehr damit beschäftigt, für unsere Zukunft und für unser Überleben ohne Klimakatastrophen zu kämpfen, dass wir die Gegenwart und uns selbst vergessen haben. Wir müssen leider für beides kämpfen. Vielleicht werden wir nächstes Jahr ein paar Tage unter der Woche und die letzte Woche vor den Sommerferien streiken, vielleicht nur hier auf der Ziehenschule, vielleicht in ganz Frankfurt, vielleicht sogar in ganz Hessen oder Deutschland. Wir wurden viel zu lange vernachlässigt, das muss endlich vorbei sein!
von
Emil Schleyer