Rund um das Schulsystem: Ein Gespräch mit Dr. Philip Wallmeier, Lehrer an der Ziehenschule

Ela: Kaum sind die Sommer­fe­rien wieder vorbei, beginnt direkt nach vier Wochen die Klau­su­ren­phase. Und der Klau­su­ren­stress ist enorm. Vor allem bleibt es nicht nur bei den Klausuren, sondern ein Haufen Haus­auf­gaben muss auch noch erledigt werden. Das ist schon eine Menge. 

Herr Wallmeier: Das kann ich mir gut vorstellen. Ich finde auch die Belastung von Schü­le­rinnen und Schülern gerade jetzt zu Beginn und in der Q‑Phase schon enorm. 

Ela: Ich habe auch einfach das Gefühl, dass gerade in diesen Phasen die Freizeit sehr zu kurz kommt. Man kann dann manchmal kaum mal richtig durch­atmen, so viel muss auf einmal erledigt werden. 

Benjamin: Es fehlt einfach sehr viel. Der Sonn­tag­abend ist eigent­lich immer für die Schule reser­viert. Vor allem, wenn man dann am Montag, Dienstag oder Mittwoch eine Klausur schreibt. Es geht halt sehr viel Zeit verloren. 

Ela: Ja, das stimmt. Und wenn man mal dieses System allgemein betrachtet, ist es einfach nur schwierig. Allein schon wie früh wir immer aufstehen müssen. Man gewöhnt sich zwar irgend­wann wieder daran, aber es nagt trotzdem manchmal an den Reserven. Vor allem wenn man Ferien hatte, und dann beginnt das Ganze von vorn, man muss wieder rein­kommen und irgendwie seinen Rhythmus finden. 

Herr Wallmeier: Ja es ist schon früh, das stimmt. 

Benjamin: Ja, auf jeden Fall. 

Ela: Und was den Klau­su­ren­stress angeht – dass wir in der Q‑Phase jetzt in jedem Fach zwei Klausuren schreiben müssen, das ist schon enorm. Ganz ehrlich, man weiß manchmal nicht mehr, was man als nächstes anfangen soll zu lernen und wo man am besten aufhört. Die Fächer verschwimmen glei­cher­maßen inein­ander. 

Benjamin: Ja, dem stimme ich zu. Ich finde es aber auf jeden Fall gut, dass wir jetzt in der Q‑Phase so wenige Fächer haben wie noch nie. Es sind aber immer noch zu viele Klausuren, die wir schreiben müssen. 

Herr Wallmeier: Ja, das stimmt. Ich bin trotzdem immer über­rascht, wie viele Schü­le­rinnen und Schüler nebenher arbeiten. Wie sie das anschei­nend trotzdem schaffen, trotz der Anfor­de­rungen, die die Schule stellt. 

Benjamin: Ja, ich arbeite auch. Und das ist auch eine Verant­wor­tung, die man zusätz­lich trägt. 

Ela: Ja, man trägt zusätz­lich noch eine andere Verant­wor­tung. Und sowas kann sicher­lich schon manchmal stressig sein, in diesen Klau­su­ren­phasen. Wenn man sich zum Beispiel alter­na­tive Schul­sys­teme anschaut, wie in Finnland, gerade in Hinblick auf die Benotung, läuft das Ganze einfach völlig anders. Es ist tatsäch­lich so, dass man nicht anhand von Zahlen bewertet wird, sondern auf Grund von Feedbacks, inklusive Verbes­se­rungs­vor­schlägen. Ich glaube, dass das sogar eine gute Alter­na­tive für uns wäre. Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich mich mit bestimmten Fächern sehr gerne ausein­an­der­setzte. Bis dann die Klausuren kommen. Man verliert so den Spaß am Lernen. In solchen Momenten ist es ja nicht so, dass man lernen will, sondern muss; indirekt dazu gezwungen wird. 

Benjamin: Es ist zwar einem selbst über­lassen, wieviel man macht, aber man unter­schätzt, was für eine Belastung das für uns ist. Wir beide zum Beispiel sind jetzt in der Oberstufe und wissen: jede einzelne Klausur zählt für unser Abitur. Rein zeitlich ist das – und muss das viel­leicht – nicht aufwendig sein, aber die psychi­schen Belas­tungen sind für Viele hoch. Zudem gehören wir auch noch der Corona Gene­ra­tion an. Da hatten wir zwei Jahre lang leider nur sehr spär­li­chen Unter­richt. Und da sind halt noch Lücken. 

Herr Wallmeier: Ich finde, da stecken zwei sehr inter­es­sante Fragen in dem, was ihr schildert. Die erste Frage ist die nach der Benotung. Sollte es diese geben? Ich bin da selbst auch skeptisch und frage mich, wie gut das funk­tio­niert; ob Noten­ge­bung überhaupt so gut ist. Also ich nehme wahr, dass manche Schü­le­rinnen und Schüler ohne Noten­druck schwer zu moti­vieren sind. Das hat viel­leicht auch was damit zu tun, dass sie halt immer gewohnt sind für Noten zu lernen. Gleich­zeitig nehme ich wahr, dass es – wie Sie erläutern – Situa­tionen gibt, in denen Noten dem Lernen eher im Weg stehen, weil sie dazu führen, dass man in erster Linie für die Klausur lernt. Aber das ist ja eigent­lich auch für uns Lehr­kräfte nicht das Ziel. Mich inter­es­siert ja an sich nicht, dass Sie gut in der Klausur sind, sondern eigent­lich will ich, dass Sie sich als Person entwi­ckeln und Bildung erfahren. Und ich denke, so geht es doch tatsäch­lich den meisten Lehrenden. 

Benjamin: Also stehen wir vor der Frage: Lernen wir für die Schule oder das Leben? 

Ela: Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Lehr­kräfte diesen Job ausüben, um den Schü­le­rinnen und Schülern bei der Entwick­lung zu helfen. Und es stimmt schon, dass wir natürlich nach jeder Klausur, wie letztlich nach jeder Unter­richt­stunde, etwas mitnehmen. Nur, brauchen wir dafür diese Klausuren, oder genauer: diese Benotung? Auf der einen Seite steht die Frage: Wie motiviert man sich für Fächer, die man nicht mag, wenn nicht durch Klausuren? Auf der anderen Seite ist zu befürchten, dass es nicht eher zu Demo­ti­va­tion führt. 

Herr Wallmeier: Ich finde auch: Moti­va­tion ist der eine Punkt, aber besonders wichtig ist doch die Diagnose. Als Lehrkraft muss ich ja immer mal wieder erfahren, ob das, was wir im Unter­richt bespro­chen haben und etwas aus unserer Diskus­sion im Klas­sen­ver­band, irgend­etwas bei Ihnen bewirkt hat. Wenn man das gar nicht misst, dann bleiben die Entwick­lungen zu undeut­lich. Und dafür sind Klausuren da, nach­zu­schauen, wo gab es Wissens­zu­wachs, wo nicht. Aller­dings, auch da kann man sich natürlich fragen, ob Klausuren immer das beste Mittel sind, das zu messen; und ich bin nicht zu 100 Prozent davon überzeugt, dass es so ist. Da bin ich ganz bei Ihnen.

Benjamin: Ich fand immer diese Beno­tungsart mit einem Drittel schrift­lich und zwei Drittel mündlich gut, weil dadurch eine Klausur nicht so absolut relevant wird. 

Herr Wallmeier: Ja, das stimmt. Gleich­zeitig ist es so, dass hinsicht­lich der Mitar­beits­note bestimmte Schü­le­rinnen und Schüler immer hinten runter­fallen, weil sie halt von Natur aus sehr still sind. Es gibt Schü­le­rinnen und Schüler, die sind super schlau, haben aber einfach mit der für den Lehrer wahr­nehm­baren Mitarbeit ihre Schwie­rig­keiten.

Benjamin: Ich sehe auf jeden Fall das Problem. 

Ela: Ich auch. Ich finde, es ist sogar ein sehr wichtiger Punkt in diesem Gespräch. Es stimmt, jeder hat seine Stärken und Schwächen. Bei uns beiden zum Beispiel ist es eher so, dass das Mündliche die Stärke und das Schrift­liche eher die Schwäche darstellt. Aber ich kenne auch genug andere, bei denen es genau umgekehrt ist, und viel­leicht bestünde ja die Möglich­keit, auch wenn das viel­leicht noch nicht so konkret umsetzbar ist, dass man dieses Lern­system indi­vi­duell an die Schü­le­rinnen und Schüler anpasst. 

Herr Wallmeier: Ja, in einer idealen Welt, nicht wahr … Ich zum Beispiel, wenn ich fest­stelle eine Schülerin oder ein Schüler beteiligt sich nur sehr selten, sage dann zu dieser Person nicht: „Du musst mal mehr im Unter­richt sagen“, denn mir ist eigent­lich nur wichtig, dass diese Person lernt. Und eine Möglich­keit, zu beur­teilen, ob sie etwas gelernt hat, ergibt sich halt aus dem, was sie sagt. Aber eigent­lich kann diese Person auch anders zeigen, dass sie etwas gelernt hat. Fragt sich: „Wie kann man das sonst zeigen?“ Das finde ich sehr sinnvoll. Ein gutes Verfahren, wenn man es syste­ma­ti­scher machen könnte. Aus meiner Sicht auch besser. 

Ela: Stimmt. Gerade was diese ideale Welt betrifft – das sieht im Realen meistens ganz anders aus. Es kommen halt viele Hürden dazu. Es ist ja auch so, dass wir so viele Schü­le­rinnen und Schüler sind, und die Frage ist dann, ob man es schafft, dass jeder einzeln indi­vi­duell seine Stärken ausleben kann. 

Benjamin: Da ist wahr­schein­lich sehr schwer bei einer Klasse mit 25 bis 30 Schü­le­rinnen und Schülern.

Herr Wallmeier: Ja, auf jeden Fall. 

Ela: Ja, leider. Eine weitere Möglich­keit wäre es viel­leicht, statt der Klausuren Haus­ar­beiten aufzu­geben, in denen viel mehr das ganze Können jeder und jedes Einzelnen einfließen könnte. Aber dann ist da wieder die Nutzung von Künst­li­cher Intel­li­genz, die dem im Wege steht. Ich glaube, letzt­end­lich kann man dazu nur sagen, dass wir vor diesen zwei Fragen stehen: Ist es überhaupt umsetzbar und kann es überhaupt funk­tio­nieren, dass alle zum Lernen moti­vierte werden, ohne Noten? 

Herr Wallmeier: Es gibt auf jeden Fall Expe­ri­mente, bei denen mit weniger Noten oder ohne Noten gear­beitet wird. Und das finde ich sehr inter­es­sant, und das sollten wir beob­achten. 

Benjamin: Bei uns wird es wahr­schein­lich keine Ände­rungen mehr geben, aber viel­leicht für die nächste Gene­ra­tion. Viel­leicht haben sie dann ein besseres Schul­system mit weniger Druck, der auf allen lastet. Am Ende ist das Abi das Entschei­dende.

Herr Wallmeier: Ja, und jeder inter­es­siert sich ja für etwas, und man muss versuchen, dieses Interesse zur Bildung zu führen. Und nicht, dass man dieses Interesse abstellt, um dann etwas anderes beizu­bringen. 

Ela: Ja, und unab­hängig vom Schul­system gibt es so viel gesell­schaft­li­chen Druck auf verschie­denen Ebenen. Es ist gesell­schaft­lich vieles verankert. So wie Stereo­typen oder eine bestimmte Vorstel­lung von Berufen, die bevorzugt werden, oder Vorstel­lungen von Glück. Das sind einfach Werte, die refor­miert werden sollten. Die zu hinter­fragen wären. Also wieder die Frage, was es eigent­lich bedeutet: glücklich zu sein? 

Herr Wallmeier: Ja, ich glaube auch, dass es einer­seits noch mehr Möglich­keiten gäbe, die nicht so im Vorder­grund stehen, um ein gutes Leben zu führen. Und ande­rer­seits werden bestimmte Lebens­be­dürf­nisse syste­ma­tisch benach­tei­ligt.

Benjamin: Ja, so ist leider unsere Gesell­schaft. 

Ela: Vielen Dank für das Gespräch! 

Benjamin: Vielen Dank! 

Herr Wallmeier: Gerne! Ich glaube der Themen­kom­plex ist vor allem die Frage nach den Noten. 

geführt von
Ela Cigir­dasman und
Benjamin Lüddecke


PS: Liebe Schü­ler­schaft, das war unser Gespräch mit Herrn Wallmeier. Das Schul­system ist ein sehr kompli­ziertes und strit­tiges Thema. Drei Schluss­fol­ge­rungen konnten wir daraus ziehen. Einmal die Frage nach der Benotung und die Frage danach, wie man unseren Lernstand testen kann, und ob das hier wirklich der richtige Weg ist. Was meint ihr, wie sieht euer Verständnis für ein perfektes Schul­system aus? Was erhofft ihr Euch, was wünscht ihr Euch? Umfragen gibt es in der nächsten Ausgabe. Also bleibt dran!